Als im August letzten Jahres sich der chinesische Staat angesichts eines möglichen Verbots der Social-Media-Plattform TikTok in den Vereinigten Staaten noch schützend vor seine Firmen stellte und von „einer Gräueltat gegen die Netzfreiheit“ sprach, konnte niemand ahnen, was sich in diesem Jahr an den US-Börsen und in China abspielen würde. Ende Juni noch sagte Finanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, er spreche sich „ganz dezidiert aus gegen alle, die Decoupling-Fantasien“ haben.
Diese scheinen nun Realität zu werden, denn die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) begann wenige Tage nach der Aussage des Ministers eine beispiellose Kampagne gegen ihre eigenen Unternehmen. Nach einem äußerst erfolgreichen US-Börsengang des in China marktbeherrschenden Fahrdienstleisters Didi, wurde die App wenige Tage später wegen „Sicherheitsrisiken“ aus den App-Stores verbannt.
Danach überschlugen sich die Hiobsbotschaften für chinesische Tech-Giganten. Firmen wie Yunmanman und Huochebang, die im Westen kaum bekannt sind, aber an den Börsen Hunderte von Millionen US-Dollar eingesammelt hatten, fielen dem neuen Staatskurs ebenso zum Opfer wie Boss Zhipin, eine Online Jobbörse. Die chinesische Kartellbehörde blockierte die 5,3 Milliarden Dollar teure Videospiel-Fusion von Tencent, nur um das Unternehmen wenige Tage später wegen wettbewerbswidrigen Verhaltens mit einer Geldstrafe zu belegen. Weiterhin plant die Behörde für den Essenslieferdienst Meituan eine Strafe in Höhe von einer Milliarde Dollar.
Die allgemein beliebte Social-Media-Plattform WeChat mit ihren 1.2 Milliarden Benutzern soll nun ebenfalls verklagt werden, wie heute bekannt wurde. Noch vor einem Jahr wollte Trump die Plattform in den Vereinigten Staaten verbieten lassen. Bis zu 70 geplante US-Börsengänge chinesischer Firmen werden in diesem Jahr höchstwahrscheinlich nicht zustande kommen. Mehr wie 1,000 Milliarden USD wurden so in den letzten Wochen den chinesischen Unternehmen an den internationalen Finanzmärkten entzogen und die Aktienwerte für chinesische Tech-Firmen befinden sich inzwischen auf Ramschniveau.
Nicht nur große Tech-firmen, selbst ganze Industriezweige sind nun im Visier der KPCh. Mitte Juni begann Peking die Bitcoin Industrie zu verbieten, was zu einem drastischen Preiseinbruch der Kryptowährung führte. 65- 75 Prozent aller weltweiten Bitcoin-Mining-Operationen fanden zum Zeitpunkt in China statt. Zwei Wochen später wurde dann bekannt, dass die KPCh gegen die boomende private Nachhilfeindustrie des Landes vorgehen würde. Sofort stürzten die Kurse chinesischer Bildungsaktien ein. Die chinesischen Staatsmedien ließen dann durchblicken, dass die Videospielindustrie, in der China ebenfalls Weltmarktführer ist, auch nicht ungeschoren davon kommen würde und nannte Computerspiele „spirituelles Opium“- wiederum mit der Folge, dass in dem Bereich die Kurse einbrachen. Genauso wurde die E-Zigaretten-Industrie von den Staatsmedien bemängelt, ein weiterer Markt den China dominiert.
Warnzeichen für das, was in den letzten Wochen passierte, wären bereits früh zu erkennen gewesen. In den letzten Tagen der Trump-Administration verabschiedete der US-Kongress einen Gesetzentwurf, der die US-Aktien- und Geldmärkte für ausländische Unternehmen sperrt, wenn sie drei Jahre in Folge die amerikanischen Prüfungsstandards nicht einhalten. Außerdem müssen die Firmen nachweisen, dass sie sich nicht im Besitz oder unter der Kontrolle einer ausländischen Regierung befinden und alle Vorstandsmitglieder benennen, die der KPCh angehören. Die Unternehmen haben 90 Tage nach Inkrafttreten des Gesetzes Zeit die Dokumente einzureichen. Das Gesetz wurde am 19. Mai 2021 vom US-Senat ratifiziert.
Die Verabschiedung des Gesetzes führte zu einem Exodus von in den USA geführten chinesischen Unternehmen und zu Zweitnotierungen in Hongkong, das als alternativer „sicherer Hafen“ für die Kapitalbeschaffung gilt. Unternehmen wie Alibaba, Baidu, Bilibili, JD.com, NetEase, Yum China, Autohome und New Oriental haben eine sogenannte „Heimkehr“-Notierung durchgeführt. Momentan sind noch 250 chinesische Firmen an US-Börsen gelistet.
Hintergrund ist nicht nur die neue geopolitische Ausrichtung der USA gegenüber China, sondern vielmehr, dass chinesische Unternehmen in der Vergangenheit wiederholt durch gefälschte und intransparente Bilanzen auffielen. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Firma Luckin Coffee. Es stellte sich heraus, dass Luckin Gutscheine an Unternehmen verkaufte, die für dutzende Millionen Tassen Kaffee eingelöst werden konnten, die mit dem Vorsitzenden und Hauptaktionär Charles Lu in Verbindung standen. Diese Verkäufe verhalfen dem Unternehmen zu weitaus höheren Einnahmen, als seine Coffeeshops tatsächlich erzielten.
Forbes mutmaßt, dass wir gerade erst den Anfang der Zersetzung chinesischer Unternehmen erleben. So könnten in naher Zukunft noch viele weitere Unternehmen dem chinesischen Staatskapitalismus zum Opfer fallen.
Hadrian Schattner lebte von 1998 bis 2012 in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong und heute in Berlin und Europa.