Als US-Präsident Joe Biden im April ankündigte, die NATO werde ihre Truppen aus Afghanistan abziehen, konnte man das Gefühl haben, die deutsche Politik habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt und sei in einen Tiefschlaf gefallen. Vorerst geschah kaum etwas.
Das Auswärtige Amt versagte bei der unbürokratischen Erteilung von Visa und Einreisegenehmigungen, und noch bis in den August hinein wurde darüber diskutiert, ob Menschen weiterhin nach Afghanistan abgeschoben werden können oder nicht. Man war so sehr mit sich selbst und dem Abzug der Bundeswehr beschäftigt, dass man die Offensive der Taliban, die in Windeseile große Teile des Landes überrannten, völlig ignorierte.
Als man sich in Deutschland endlich der neuen Realität bewusst wurde, war es bereits zu spät. Bilder von den herannahenden Taliban, von Menschen in Panik am Flughafen und vom Terroranschlag flimmerten über die Nachrichtensendungen der öffentlich-rechtlichen Sender und über die sozialen Medien. In der Folge konnte nur ein Bruchteil der bis zu 40.000 zu schützenden Menschen evakuiert werden.
Nach dem anfänglichen Tiefschlaf ist das Thema nun auch hierzulande omnipräsent und es macht sich Aktionismus in der Bundesregierung breit. So bereiste der Bundesaußenminister Heiko Maas diese Woche mehrere Anrainerstaaten Afghanistans sowie die Türkei und Katar, um nach Lösungen für ein zukünftiges Flüchtlingsproblem und einen Umgang mit den Taliban zu suchen – wahrscheinlich mit einem moderaten Ausgang für die Betroffenen.
Es ist interessant festzustellen, wohin der Außenminister diese Woche nicht flog: China. Im Einklang mit der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit, den öffentlich-rechtlichen Medien und den Diskussionen im Bundestag scheint China in der gesamten Afghanistan-Frage keine Rolle zu spielen, obwohl die Volksrepublik im Post-Nato-Afghanistan für die Taliban inzwischen zum wichtigsten Akteur geworden ist. „China ist unser wichtigster Partner und stellt eine fundamentale und außergewöhnliche Chance für uns dar, weil es bereit ist, zu investieren und unser Land wieder aufzubauen“, sagte der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid.
Bereits Ende Juli trafen sich der chinesische Außenminister Wang Yi und der afghanischen Taliban Mullah Abdul Ghani Baradar im chinesischen Tianjin. Dabei müsste es beiden Parteien zu diesem Zeitpunkt klar gewesen sein, wer zwei Wochen später Afghanistan beherrschen würde.
So ging es bei dem Treffen vorwiegend um die Interessen der beiden Regime. Einem US-Bericht zufolge verfügte Afghanistan im Jahr 2010 über eine Billion Dollar an Bodenschätzen, dank riesiger Eisen-, Kupfer-, Lithium-, Kobalt- und Seltenen-Erden-Vorkommen. In den folgenden zehn Jahren blieben die meisten dieser Ressourcen aufgrund der anhaltenden Gewalt im Land unangetastet. In der Zwischenzeit ist der Wert vieler dieser Mineralien durch die weltweite Umstellung auf grüne Energie in die Höhe geschnellt. Ein Folgebericht der afghanischen Regierung aus dem Jahr 2017 schätzt den neuen Mineralienreichtum Kabuls auf bis zu 3 Billionen US-Dollar, einschließlich fossiler Brennstoffe.
Die staatliche Global Times erklärte deshalb nach dem Treffen: „China und Afghanistan haben in der Tat eine Grundlage für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen. Afghanistan ist nicht nur ein wichtiger Partner im Rahmen der „Belt and Road Initiative“ (BRI), sondern auch ein Beobachterstaat in der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO). Beide Organisationen bieten immer stärkere Erleichterungen für die Entwicklung der jeweiligen Volkswirtschaften.“
Und auch weitere geopolitische Gedanken dürfte China im Umgang mit den Taliban verfolgen. Afghanistan verfügt über eine 91 km lange, schwer kontrollierbare Grenze zu Xinjiang und 2000 Uiguren flohen in der Vergangenheit über die Grenze. Afghanistan könnte auch zu einem wichtigen Staat in der Interaktion mit seinen Nachbarn werden und neuen Druck auf den chinesisch-indischen Grenzkonflikt aufbauen.
Deshalb war China eines der ersten und wenigen Länder, das die Machtübernahme durch die Taliban rasch begrüßte. Das chinesische Außenministerium verkündete am Tag nach dem Kollaps der afghanischen Regierung und dem Einmarsch der Taliban-Kämpfer in Kabul „Wir respektieren den Willen und die Entscheidung des afghanischen Volkes.“ und „China hat zur Kenntnis genommen, dass die afghanischen Taliban gestern erklärt haben, dass der Krieg in Afghanistan beendet ist und dass sie Gespräche zur Bildung einer offenen, integrativen islamischen Regierung in Afghanistan führen und verantwortungsvolle Maßnahmen zum Schutz der Sicherheit der afghanischen Bürger und der ausländischen diplomatischen Vertretungen ergreifen werden.“
Die US-Regierung hat das Vorgehen Chinas bisher nicht kommentiert, ebenso wenig wie die deutsche Regierung. Es sollte jedoch klar sein, dass die Verhandlungsbereitschaft der radikal-islamischen Miliz entgegen den Beteuerungen der Politiker und den Berichten in den öffentlich-rechtlichen Medien eine Illusion ist. Trotz der humanitären Krise können es sich die Taliban leisten, auf westliche Hilfsgelder zu verzichten, weil sie die Unterstützung Pekings haben.
Hadrian Schattner lebte von 1998 bis 2012 in der chinesischen Sonderverwaltungszone Hongkong und heute in Berlin und Europa.