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Foto: Die nationale Sicherheitspolizei beschlagnahmt Ausstellungsobjekte im Tiananmen-Massaker-Museum (Stand News)

Nachdem seit der blutigen Niederschlagung der Demokratieproteste am 4. Juni 1989 am Platz des Himmlischen Friedens in Peking jedes Jahr zehntausende und hunderttausende in Hongkong eine friedliche Mahnwache abgehalten hatten, wurde diese nun seit 2020 vom Regime verboten.

Dennoch trauerten letztes Jahr wiederum tausende in Hongkongs Victoria Park. Als Konsequenz wurden etliche Personen inhaftiert und heute sogar das Museum des Tiananmen-Massakers durchsucht. Gestern wurden die Organisatoren der jährlichen Mahnwache festgenommen.

Zwölf Hongkonger Demokraten bekannten sich schuldig, an der Tiananmen-Massaker-Mahnwache teilgenommen oder andere zur Teilnahme angestiftet zu haben. Albert Ho, prominenter Politiker und stellvertretender Vorsitzender der Hongkonger Allianz zur Unterstützung der patriotischen demokratischen Bewegungen Chinas, ist wegen seiner Rolle in der Protestbewegung bereits seit April 2020 bereits inkarniert und machte nun vor Gericht seine eigene Aussage:

Foto: Jährliche Kerzenlichtmahnmache im Victoria Park, Hongkong – 4. Juni 2009 (Ethan Kan, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons)

Ich bin der zweite Angeklagte in diesem Verfahren, das sich auf die Kerzenlichtmahnwache im Victoria Park („der Park“) am 4. Juni 2020 bezieht. Als stellvertretender Vorsitzender der „Hong Kong Alliance in Support of the Patriotic Democratic Movement of China“ („die Hongkong Allianz“), die für die Abhaltung der Versammlung verantwortlich ist, habe ich mich der gegen mich erhobenen Anklage für schuldig bekannt. Ich halte es für meine Pflicht, die Geschichte der Mahnwache für den 4. Juni in den letzten 30 Jahren umfassend zu schildern, damit Euer Ehren den sachlichen Hintergrund für die notwendige Entscheidung erhält.

Die Geschichte begann im Mai und Juni 1989 während des Aufflammens der Demokratiebewegung in Peking. Damals wurde von den Studenten, denen sich Tausende von Bürgern anschlossen, eine massive soziale Bewegung initiiert, die friedlich und vernünftig verlief und verschiedene Versammlungen und Märsche umfasste. Ziel der Bewegung war es, gegen Korruption zu protestieren und Demokratie zu fordern.

Die Bewegung wurde schließlich von der chinesischen Regierung beendet, die in der Nacht des 4. Juni Truppen in die Stadt Peking schickte, was zur blutigen Niederschlagung der Menschen führte, die damals friedlich auf den Straßen Pekings protestierten.

Warum war Hongkong, damals eine britische Kolonie, die Tausende von Kilometern entfernt an der Peripherie des Landes lag, so stark in die Demokratiebewegung von 1989 verwickelt? Die Antwort ist einfach und klar: Die Menschen in Hongkong, die kurz vor der Wiedervereinigung mit unserem Mutterland standen, hegten die Hoffnung, dass es sich zu einer freien und demokratischen Nation entwickeln würde. Sie waren auch tief bewegt von dem aufrichtigen und selbstlosen Geist der Pekinger Studenten, weshalb sie sich spontan erhoben, um die demokratische Bewegung zu unterstützen. In der Zeit vom 21. Mai bis zum 4. Juni nahmen viele Bürger Hongkongs an mindestens drei großen Demonstrationen teil, an denen sich jeweils über eine Million Menschen beteiligten. Zur gleichen Zeit waren Hunderte von Studenten und Bürgern aus Hongkong, begleitet von Reportern, persönlich auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, um die Pekinger Studenten zu unterstützen. Die Hongkong-Allianz wurde spontan von verschiedenen lokalen gesellschaftlichen Organisationen gegründet, um die Prozessionen und Versammlungen in Hongkong vorzubereiten und zu organisieren. In dieser Zeit fanden fast täglich öffentliche Veranstaltungen und Aktionen statt, die Organisatoren und Teilnehmer pflegten eine sehr gute Kommunikation und Zusammenarbeit mit der Polizei, und es gab keine Bedenken, dass es zu Verstößen gegen die Gesetze zur Regelung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit kommen könnte, die eine Strafverfolgung zur Folge hätten.

Warum gedenkt die Hongkong-Allianz auch nach der Niederschlagung der Demokratiebewegung von 1989 noch immer dem 4. Juni und fordert die Anerkennung der Demokratiebewegung von 1989 mit Nachdruck? Kurz gesagt, es liegt an der moralischen Verpflichtung und der gewissenhaften Pflicht, die das Volk von Hongkong bereit ist zu übernehmen. Hierfür gibt es drei wichtige Fakten:

(I) Die Menschen in Hongkong, die 1989 auf die Straße gingen, um die Pekinger Studentenbewegung zu unterstützen, waren von einem einfachen und echten patriotischen Geist und einer Zuneigung zu ihren chinesischen Landsleuten motiviert. Wir fühlten uns geistig und emotional mit unseren patriotischen Brüdern und Schwestern verbunden. Als die Teilnehmer aus Hongkong die blutige Niederschlagung am 4. Juni durch die Medienübertragungen persönlich miterlebten, waren sie alle zutiefst empört. Sie werden dieses Stück Geschichte nicht vergessen, weshalb sie sich moralisch verpflichtet fühlten, es durch kollektive Erinnerungen an die jüngeren Generationen weiterzugeben, um sicherzustellen, dass unser Volk nicht an Geschichtsvergessenheit leidet. Am Vorabend des 4. Juni, als die blutige Niederschlagung stattfand, hielten sich viele Hongkonger Bürger und Studenten zusammen mit den Massen von Zivilisten auf, die auf den Straßen Pekings friedlich protestierten. Sie waren schockiert, als die Truppen plötzlich auf die friedlichen und unbewaffneten Zivilisten schossen. Viele Zivilisten wurden angeschossen und brachen zusammen. Anstatt sich jedoch aus Angst zu verdrücken, blieben die Pekinger zusammen und bildeten einen menschlichen Schutzwall, um die Hongkonger zu schützen. Nach den Aussagen der in der Nähe anwesenden Hongkonger Studenten und Reporter weinten die Pekinger und appellierten unter Tränen an die Hongkonger, sicher nach Hongkong zurückzukehren und der ganzen Welt die Wahrheit darüber zu sagen, was in dieser Nacht geschehen war, nämlich dass unsere Regierung ihr eigenes Volk abgeschlachtet hat. Diese Menschen kehrten unter Tränen nach Hongkong zurück und verpflichteten sich gewissenhaft, die Wahrheit nach Hongkong zu bringen, um sie der ganzen Welt mitzuteilen. Wie konnte unser Volk sein Versprechen brechen und seine Verpflichtung vergessen?

In den letzten 30 Jahren haben wir, die Menschen in Hongkong, unsere moralische Verpflichtung erfüllt, indem wir die historische Wahrheit des 4. Juni geschützt und verhindert haben, dass sie verzerrt, beschönigt oder vergessen wird.

Auf dem Festland ist eine offene Diskussion über den 4. Juni in der Öffentlichkeit immer verboten gewesen. Daher wurde die historische Frage nach „richtig“ oder „falsch“ in Bezug auf die Demokratiebewegung von 1989 im Schatten des Schweigens belassen, so als ob die ganze Nation an Amnesie über den 4. Juni leidet. Andererseits sprechen wir in dieser kleinen Stadt Hongkong als das Gewissen der ganzen Nation, schützen die Wahrheit der Geschichte und die Würde des Volkes.

In den vergangenen 30 Jahren hat die Hongkong-Allianz daher gemeinsam mit den Einwohnern Hongkongs gewissenhaft die Aufgabe übernommen, die Wahrheit über den 4. Juni zu schützen. Zu diesem Zweck haben wir das Museum des 4. Juni eingerichtet, Seminare und verschiedene Formen von Gedenkveranstaltungen organisiert, von denen die prominenteste die alljährlich stattfindende Kerzenlichtmahnwache zum 4. Juni war, die von vielen Teilnehmern unterstützt wurde. Den öffentlichen Aufzeichnungen zufolge fand die Kerzenmahnwache 30 Jahre lang, von 1990 bis 2019, jedes Jahr am 4. Juni im Victoria Park statt, auch wenn es stark regnete oder stürmte. Die Zahl der Teilnehmer schwankte jedes Jahr zwischen mehreren zehntausend und etwa zweihunderttausend. Jedes Mal verlief die Mahnwache friedlich und geordnet, ohne dass es zu einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Störung der öffentlichen Ordnung kam.

Es wurde gesagt, dass es in der Geschichte der Menschheit noch nie so viele Menschen gegeben hat, die über einen so langen Zeitraum (d. h. 30 Jahre) jedes Jahr am selben Abend (d. h. am 4. Juni) am selben Ort zu einer öffentlichen Versammlung zusammengekommen sind, um der Macht die Wahrheit zu sagen.

Im Jahr 2020 erhob die Regierung zum ersten Mal seit 1989 Einspruch gegen die Abhaltung der Mahnwache am 4. Juni im Victoria Park mit der Begründung, die Ausbreitung der neuen Covid-19-Infektion verhindern zu wollen. Nachdem der Einspruch gegen die Entscheidung der Polizei gescheitert war, beschloss der Exekutivausschuss, die Kerzenmahnwache nicht wie in der Vergangenheit zu organisieren, weil wir nicht in der Lage waren, die Lautsprecheranlage und die Großleinwand zusammen mit dem Bühnenpodest zu installieren und auch kein Team von freiwilligen Helfern von 300- 500 Personen organisieren konnten, sodass wir nicht in der Lage waren, eine wirksame Kontrolle der Menschenmenge bei einer großen Massenversammlung durchzuführen. Der Exekutivausschuss beschloss daher, an diesem Abend im Victoria-Park eine einfache Gedenkveranstaltung durchzuführen, die möglichst symbolträchtig sein sollte, und sich mit der Bevölkerung Hongkongs online in Echtzeit zu verbinden. Zu diesem Zeitpunkt rechneten wir damit, dass, obwohl wir beschlossen hatten, keine große Gedenkveranstaltung im Park abzuhalten, wahrscheinlich einige Menschen in den Park kommen würden, um auf eigene Faust des 4. Juni zu gedenken. Genau das geschah an diesem Abend.

An diesem Abend gab es kein funktionierendes Lautsprechersystem, sodass der Exekutivausschuss nicht in der Lage war, mit den meisten der auf den Fußballplätzen verstreuten Personen direkt zu kommunizieren oder zu interagieren. Zwar rief unser Vorsitzender Lee Cheuk Yan Parolen und sang, doch tat er dies hauptsächlich zu dem Zweck, sich über das Internet unmittelbar mit den Menschen außerhalb des Parks oder sogar außerhalb Hongkongs zu verbinden. Genau genommen fand jede Interaktion zwischen den Mitgliedern des Exekutivausschusses der Hongkong-Allianz und den Teilnehmern im Park spontan und ohne vorherige Planung statt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Gedenkaktivitäten bzw. die Versammlung am 4. Juni gegen die Verordnung über die öffentliche Ordnung verstoßen haben, da die Polizei keine Unbedenklichkeitsbescheinigung ausgestellt hat. (Diese Regelung ist derzeit Gegenstand einer verfassungsrechtlichen Anfechtung vor dem Berufungsgericht, auf die ich in dieser Anhörung jedoch nicht eingehen möchte). Wir wurden jedoch von unserem Gewissen und unserer moralischen Verpflichtung getrieben, unser Bestes zu tun, um diese historische Tradition des Gedenkens an den 4. Juni aufrechtzuerhalten, uns an die Lektion der Geschichte zu erinnern und der Macht, die Wahrheit zu sagen.

Euer Ehren, in den letzten 40 Jahren habe ich nicht nur als Anwalt gearbeitet, sondern mich auch einer politischen Karriere (als Abgeordneter) und der sozialen Bewegung gewidmet. Ich setze mich nachdrücklich für die Förderung der Demokratie und die Wahrung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in Hongkong wie auch in meinem Heimatland ein. Ich habe den Entkolonialisierungsprozess während der Übergangsphase der Rückkehr Hongkongs in sein Mutterland miterlebt. Vor und nach der Niederschlagung vom 4. Juni entschied ich mich als Kämpfer für die Demokratie zusammen mit vielen anderen, nicht auszuwandern und lehnte es sogar ab, einen britischen Pass im Rahmen der von der sich zurückziehenden Kolonialmacht angebotenen britischen Staatsangehörigkeitsregelung zu beantragen.

Euer Ehren, am 4. Juni des Jahres 2020 wollten wir, einschließlich einiger Angeklagter, die sich der Anklage schuldig bekannt haben, lediglich von unserer Grundfreiheit Gebrauch machen, den 4. Juni aus Gewissensgründen und mit Zivilcourage zu begehen. Wir haben zugegeben, dass wir bestimmte rechtliche Anforderungen nicht erfüllt haben, da wir es versäumt haben, eine Unbedenklichkeitsbescheinigung der Polizei einzuholen. Vor dem oben dargelegten historischen und gesellschaftlichen Hintergrund und Kontext haben wir einen Akt des zivilen Ungehorsams begangen und sind bereit und willens, die sich daraus ergebenden rechtlichen Konsequenzen zu tragen. Selbst wenn die Hongkong-Allianz in Zukunft aufgelöst und die Mahnwache am 4. Juni im Victoria Park verboten werden sollte, wird der Geist des Gedenkens mit dem Kerzenlicht, das jedes Jahr am 4. Juni in den Herzen der Menschen in Hongkong brennt, weiterleben.

Wir werden positiv und hoffnungsvoll bleiben und auf Veränderungen in der Zukunft warten, weil wir glauben, dass wir auf der richtigen Seite der Geschichte stehen und die Entwicklung der menschlichen Geschichte nicht aufhören wird.

Euer Ehren, wir respektieren Ihre rechtliche Verantwortung als Richter, mich und andere zu verurteilen. Ich bitte nicht um Nachsicht im Sinne einer Strafmilderung, aber ich hoffe und erwarte, dass die Länge der Strafe gerecht, fair und verhältnismäßig ist, wenn man den oben genannten historischen Hintergrund und die Tatsache berücksichtigt, dass das Ereignis vom 4. Juni friedlich und geordnet verlaufen ist. In Anbetracht der Ähnlichkeit der Strafen, die ich derzeit im Gefängnis verbüße, möchte ich Sie außerdem höflich bitten, die Anwendung des Totalitätsprinzips zu erwägen.

Vielen Dank, Euer Ehren.

Ho Chun Yan.